pts20101028006 Medizin/Wellness, Medien/Kommunikation

"Zämestah" - Komitee kämpft für solidarische Invalidenversicherung

Kundgebung am 30.10.2010 um 14:00 Uhr auf dem Berner Bundesplatz


Bern (pts006/28.10.2010/07:30) Geht es nach den IV- Revisionsvorlagen 6a und 6b, werden künftig langjährige IV-Renten aufgehoben und rückwirkend ganze Krankheitsbilder von der Leistungspflicht der Invalidenversicherung ausgeschlossen. Weiter sollen die IV Renten massiv gekürzt werden, obwohl bereits heute nicht existenzsichernd. Am schlimmsten trifft diese Sparübung die Schwerbehinderten.

Den IV-Ärzten und der IV- Administration soll zudem eine unerhörte Machtfülle eingeräumt werden. Die neuerlichen Vorschläge sind Sparübungen zulasten der Schwächsten.

Sie gefährden die soziale Sicherheit und die Existenz von vielen Menschen mit Behinderung. Die hoch angepriesenen Integrationsmassnahmen sind toter Buchstabe geblieben, es gibt sie nicht, die erfolgreiche Integration von Rentenbezügern. Warum? Weil der Gesetzgeber es unterlassen hat, den Arbeitsmarkt und die Arbeitgeber mit einzubeziehen. Es fehlen griffige Massnahmen zur erfolgreichen Umsetzung der Integration.

Die vorgesehenen Aenderungen sind unausgewogen und führen volkswirtschaftlich nur zu einer Verschiebung der finanziellen Lasten zu anderen Kassen (Ergänzungsleistungen) oder noch viel mehr zu Kantonen und Gemeinden (Sozialhilfe). Die Zeche zahlt der ahnungslose Bürger und die ahnungslose Bürgerin.

Das darf und kann nicht sein!
Wir wehren uns gegen die Ausgrenzung statt Eingliederung, gegen die Diskriminierung einzelner Krankheitsbilder, gegen immer weiteren Leistungsabbau und gegen die immer grössere Machtfülle für die IV-Administration. Es gibt keine guten Behinderten und schlechten Behinderten. Wir stehen ein für die die Schweiz prägende Solidarität.

Das wollen wir kund tun:
Das Komitee "Zämestah" ruft für Samstag, den 30. Oktober 2010, um 14 Uhr zu einer Kundgebung auf dem Bundesplatz in Bern auf. Angaben zu den an der Aktion beteiligten Organisationen und weitere Hintergrundinformationen sind auf http://www.zaemestah.ch erhältlich.

Jeder Einzelne kann sich ausserdem auf der Unterstützerliste unter http://www.zämestah.ch/unterstuetzung.php eintragen und damit seine Solidarität mit den Schwächsten unserer Gesellschaft kundtun. - Denn es kann jeden treffen.

Links

Video: http://www.zaemestah.ch/zaemestah-video.php
Unterstützerliste: http://www.zämestah.ch/unterstuetzung.php
Hintergrundinfo: http://zaemestah.ch/hintergrund.php

Manifestazione il 30.10.2010, alle ore 14:00, nella Piazza Federale a Berna: http://insieme-tutti.ch/

Ensemble tous pour une Assurance-
Invalidité solidaire: http://ensemble-tous.ch/assets/ensemble-tous.pdf

Kontakt:

Werner Kupferschmid
Tel. 044 250 70 70
Mail: werner.kupferschmid@khu.ch

Zämestah - Kundgebung 30.10.2010, 14:00 Uhr, Bern Bundesplatz
Hintergrundinformation zur 6. IV-Revision

Die 6. IV Revision ist, wenngleich mit einigen begrüssenswerten Regelungen versehen ( Assistenzentschädigung, IV Revision 6a) im Wesentlichen eine Sparvorlage, die zu einem eklatanten Leistungsabbau führt. Gleichzeitig wurde - wie in der vorangehenden 4. und 5. IV Revision - einmal mehr verpasst, brach liegende Sparpotentiale zu nutzen, so insbesondere die effektive Integration in den Arbeitsmarkt und eine sachgerechte Versicherungskoordination. Die Verschuldung der IV darf nicht zu einem Kahlschlag bei den Leistungen verleiten, der zu einer blossen Kostenumverteilung in die Sozialhilfe führt. Die Konzeption der IV als Volksversicherung verlangt nach kreativen Massnahmen und nicht blossem "Kässelidenken".

Die Verschuldung der IV darf auch nicht dazu führen, dass der IV-Administration notrechtgleich eine unzulässige Machtfülle zugestanden wird.

In den letzten sechs Jahren wurden drei IV-Revisionen durchgepaukt; jede einzelne mit Leistungsabbau für die Betroffenen. Jetzt reicht's. Wir haben genug von dieser Salami-Taktik und setzen ihr kreative Vorschläge und fundierte Kritik entgegen.

Sparen durch effektive Eingliederung
Werden Behinderte tatsächlich in die Arbeitswelt eingegliedert, zieht dies nachhaltig tiefere Ausgaben nach sich, und zwar für alle Unterstützungssysteme. Hier liegt das grösste Sparpotential überhaupt. Zudem wird mit einer tatsächlichen Eingliederung dem Recht auf Arbeit genüge getan.

Seit Jahren fordern Behindertenorganisationen, dass öffentliche und private Arbeitgeber ab einer gewissen Betriebsgrösse verpflichtet werden, einen konkreten Prozentsatz an behinderten Menschen zu beschäftigen; eine Regelung, die sich im umliegenden Ausland längst bewährt hat (sogenannte Quotenregelung).

Vor der 5. IV-Revision wurde an die Selbstverantwortung der Wirtschaft appelliert und ausgeführt, eine Quotenlösung sei nicht notwendig. Diese Prognosen haben sich leider - aber erwartungsgemäss - nicht bewahrheitet. Im erläuternden Bericht zur IV-Revision 6b räumt das Bundesamt für Sozialversicherung freimütig ein, die Eingliederungsbemühungen der IV seien nur wenig erfolgreich gewesen. Anstatt aus dieser Erkenntnis heraus griffige Rezepte für den realen Arbeitsmarkt zu schaffen, setzt man in den Revisionsvorlagen einmal mehr auf zusätzliche Administrierung, so u.a. Eingliederung durch zusätzliche Case-Managements und interprofessionelle Assessments.

Die einzige neue Bestimmung, die sich auf den tatsächlichen Arbeitsmarkt bezieht, besteht darin, dass der Arbeitgeber vor Kündigung einer arbeitsunfähigen Person die IV informieren sollte, ein wahrlich schwaches Instrument!

Zur wirkungsvollen Eingliederung sind auch Anreizsysteme denkbar, insbesondere Steuererleichterungen und Zuschüsse. Auch diese Vorschläge waren schon bei der 5. IV Revision auf dem Tisch und wurden in der Botschaft zur 5. IV Revision als prüfenswert bezeichnet. Realisiert davon wurde nichts.

Sparen durch eine sachgerechte Versicherungskoordination
Vor bestehendem Spardruck ist es unverständlich, weshalb nicht auch die Versicherungskoordination einer kritischen Würdigung unterzogen wird. Mit Art. 20 Abs. 2 UVG besteht im Unfallversicherungsgesetz eine Norm, welche der IV nach Unfällen die Hauptlast bei den Invalidenrenten zuweist, ohne dass ein sachlicher Grund dafür ersichtlich wäre. Nach dieser Bestimmung hat die IV ihre Rentenleistungen bei Unfällen immer zu erbringen, die Unfallversicherung braucht bloss bis zu einem gewissen Betrag zu ergänzen. Diese widersinnige Koordination muss zwangsläufig zur finanziellen Überbelastung der IV führen und verhilft den Unfallversicherern gleichzeitig zu regelmässigen Gewinnen.
Auch dies wurde bereits im Vernehmlassungsverfahren zur 5. IV Revision kritisiert; eine Korrektur ist bis heute nicht erfolgt.

Keine Ausgrenzung durch antiquierte Arbeitsmarktdefinition
Die Invalidenversicherung hat sich immer mehr darauf verlagert, eine theoretische Arbeits- bzw. Erwerbsfähigkeit auf dem sogenannten freien und ausgeglichenen Arbeitsmarkt zu behaupten, um so einer Leistungspflicht zu entgehen. Dabei versteht die IV den freien und ausgeglichenen Arbeitsmarkt als gleiches Angebot von Stellennachfrage wie Angebot und meint so, konjunkturelle Schwankungen bei der Rentenprüfung ausschliessen zu können und die Abgrenzung zur Arbeitslosenversicherung vollziehen zu können. Es ist allerdings allen Akteuren klar, dass ein so definierter Arbeitsmarkt selbst bei guter Konjunkturlage heute nicht mehr besteht, weil gewisse Tätigkeiten wegen der fortschreitenden Automatisierung und Globalisierung generell nicht mehr gefragt sind. Dadurch, dass die IV den konjunkturell ausgeglichenen Arbeitsmarkt nicht zeitgemäss definiert, werden viele schlecht qualifizierten gesundheitlich beeinträchtigte Menschen von IV-Leistungen ausgeschlossen, obwohl auch sie dafür Beiträge entrichtet hatten.

Keine Diskriminierung einzelner Krankheitsbilder
Zu den Sparbemühungen in der Invalidenversicherung gehört auch die Ausgrenzung von gewissen psychischen Krankheiten und Schmerzstörungen, wozu das Bundesgericht neu auch das Schleudertrauma zählt.

Die "Schmerz-Praxis", die überall zur Anwendung kommt, wo sich kein oder kein genügender bildgebender Nachweis für das geklagte Leiden vorliegt, lässt die Vermutung zu, Schmerzen seien überwindbar, weshalb sie nicht zu Arbeitsunfähigkeit führten. Damit wird die Frage der Überwindbarkeit von Schmerzen nicht mehr medizinisch sondern juristisch administrativ beantwortet. Eine Unüberwindbarkeit mit Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit soll bloss noch in Ausnahmefällen vorliegen.

Währendessen die Frage nach dem Schmerzaufkommen und der Schmerzerträglichkeit bis anhin vom Arzt oder der Ärztin beurteilt wurde, sollen nunmehr die IV-Verwaltung und die Gerichte gestrenge darüber entscheiden und so den Sparauftrag des Bundes erfüllen.

Die rechtsungleiche Behandlung von Krankheitsbildern ohne bildgebenden Nachweis verstösst gegen das Gleichbehandlungsgebot und das Verbot der Behindertendiskriminierung. Zudem liegt ein Verstoss gegen die Europäische Menschenrechtskonvention vor.

Keine Aufhebung bestehender Renten
Nach bestehendem Recht können laufende, seinerzeit rechtmässig zugesprochene Invalidenrenten nur dann aufgehoben werden, wenn sich der Gesundheitszustand des Ansprechers verbessert hat, nicht aber wenn mittlerweile eine neue, strengere Praxis eingeführt wird. Dies ergibt sich aus dem Gebot der Besitzstandwahrung sowie dem verfassungsmässigen Gebot von Treu und Glauben staatlichen Handelns. Dieser Grundsatz soll mit der IV Revision 6a für Schmerzkranke über Bord geworfen werden. Bei (jahrelang) laufenden "Schmerz-Renten" soll neu ebenfalls die Vermutung gelten, die Schmerzen liessen sich überwinden. Dies, obwohl das Bundesgericht jüngst genau in dieser Frage zum Schluss gekommen ist, eine Abänderung laufender Renten bei nicht verbessertem Gesundheitszustand sei nicht vertretbar, weil das öffentliche Interesse an der neuen Praxis geringer zu werten sei als die Einzelinteressen der vielen Rentner, denen mit dem Wegfall ein Teil oder gar das ganze Existenzeinkommen wegbreche.

Mit der 6. IV Revision wird das Unrecht einer nachträglichen Aufhebung in Gesetzesform gegossen, um es so vor Anfechtungen zu feien.

Was heute nur bei Schmerzkrankheiten gelten soll, kann morgen für viele andere Leiden angerufen werden, ist einmal die Türe zum Besitzstandsbruch geöffnet. Viele gesundheitlichen Beeinträchtigungen ergeben sich nämlich wegen der Schmerzen und nicht wegen der funktionellen Ausfälle (z.B. rheumatische Leiden, Arthrosen, degenerative Rückenleiden).

Nicht hinnehmbare Rentensenkungen
Mit der IV-Revision 6b werden die Invalidenrenten betraglich empfindlich gekürzt. Bei einer 50%igen Invalidität soll neu bloss noch 37.5% der Vollrente ausgerichtet werden. Die Kinderrenten werden beinahe halbiert, obwohl bereits die jetzigen Kinderrenten die tatsächlichen Unterhaltskosten für ein Kind bei weitem nicht abzudecken vermögen. Schliesslich soll neu erst ab einer Invalidität von 80% der Anspruch auf eine ganze Rente entstehen (bisher: 70%), obwohl aus der Rechtsprechung bekannt ist, dass Erwerbsfähigkeiten von unter 30% in der Regel auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr umsetzbar sind.

Damit wird vorab der in der Bundesverfassung statuierte Grundsatz der ausreichenden Invalidenvorsorge unterlaufen . Aber auch die in der Verfassung verankerten Sozialziele der wirtschaftlichen Absicherung von Behinderten und der Ausbildungsziele für Kinder werden beschnitten.

Die IV entfernt sich damit immer mehr vom ursprünglichen Zweck, Behinderten eine genügende Subsistenz-Grundlage zu bieten. Es kann auch bloss beschränkt argumentiert werden, dafür bestünden heute andere Auffangsysteme, insbesondere die Ergänzungsleistungen oder die Invalidenleistungen der Pensionskasse. Das Ausrichten von Ergänzungsleistungen ist an zusätzliche Kriterien gebunden, die nicht alle zu erfüllen vermögen. Viele Personen verfügen überdies über keine Pensionskassendeckung, weil sie bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit keiner Pensionskasse unterstanden.

Die empfindlichen Rentenkürzungen treffen insbesondere diejenigen, die stark behindert sind und keinem Teil-Erwerbseinkommen mehr nachgehen können. Der Gang zur Sozialhilfe wird unvermeidlich. Damit wird die landesweite Solidarität unterlaufen, zumal - anstatt der Gesamtbevölkerung - plötzlich die Wohnsitzgemeinde für die Kosten aufzukommen hat. Wird zusätzlich berücksichtigt, dass Sozialhilfeempfänger die Tendenz haben, in die grossen Zentrumsstädte zu ziehen, so ergibt daraus nochmals eine unsolidarische Lastenumverteilung.

Keine verfassungswidrige "Notrecht"-Machtfülle bei den IV Ärzten
Laut IV Revision 6b sollen neu ausschliesslich die IV-Ärzte des regionalen ärztlichen Dienstes (RAD) für die Beurteilung der funktionellen Leistungsfähigkeit versicherter Personen zuständig sein.

Diese Regelung ist klar unzulässig; es handelt sich um ein verpöntes Beweisverbot. Damit wird diametral gegen den in der Verfassung festgeschriebenen Grundsatz der freien Beweiswürdigung und gegen das Recht auf Beweis verstossen. Nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung haben Verwaltung und Gerichte unabhängig von der Herkunft des Beweismittels die materielle Wahrheit herauszufinden . Der Grundsatz will sicherstellen, dass der Rechtsanwender in seiner Urteilsfindung frei ist . Das Recht auf Beweis jedes Einzelnen gründet im verfassungsmässig und über die EMRK garantierten Grundsatz auf rechtliches Gehör . Es soll jedermann möglich sein, seinen Standpunkt ins Verfahren einzubringen und zu beweisen.

Fazit:
Die IV-Revisionsvorlagen 6a und b führen zu einer eklatanten wirtschaftlichen und verfahrensmässigen Schlechterstellung von Behinderten. Sie verletzen zudem den Solidaritätsgedanken, weil Behinderte vermehrt auf Sozialhilfe angewiesen sein werden. Deswegen: Zämestah für eine solidarische Invalidenversicherung. Zurück mit den Vorlagen an den Absender!

(Ende)
Aussender: Zämestah
Ansprechpartner: Werner Kupferschmid
Tel.: 044 250 70 70
E-Mail: werner.kupferschmid@khu.ch
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