pte20200302016 Politik/Recht, Handel/Dienstleistungen

Multipolare Welt hat Geist von Helsinki verloren

Heinz Gärtner: Alleingänge in der Politik führen ins Desaster


Wien (pte016/02.03.2020/10:30) Mit der Trump-Ära geht die viele Jahrzehnte lang bewährte multilaterale Nachkriegsordnung zuende. Dem "guten" Miteinander in den internationalen Beziehungen folgt ein bisher nicht gekannter nationaler Egoismus. Doch das sei ein gefährlicher Irrweg, warnt der Wiener Politikwissenschafter und Friedensforscher Heinz Gärtner vom International Institute for Peace http://iipvienna.com . Er fordert die Rückkehr zum Geist von Helsinki, der 1975 - mitten im Kalten Krieg - die Bedingungen einer friedlichen Koexistenz festgeschrieben hat.

Bei einer Diskussion im Wiener Club Carinthia* http://club-carinthia.at über den Rückzug der USA aus zahlreichen internationalen Vereinbarungen meinte der Friedensforscher, Trumps Politik sei gar nicht so unberechenbar wie allerorten erklärt. Es sei von Anfang an klar absehbar gewesen, dass der US-Präsident das Vermächtnis seines Vorgängers Obama in jedem einzelnen Punkt zerstören will. "Wer also glaubt, dass Trump recht hat, glaubt dass Obama alles falsch gemacht hat."

Gärtner im O-Ton: "Für Obama galt: Multilateral, wo immer möglich und unilateral, wenn's nicht anders geht." Bei Trump sei das genau umgekehrt. Trump lehnt alles ab, was multilateral in der Staatengemeinschaft ausgehandelt wurde - und das, obwohl die liberale Weltordnung ein Konzept ist, dass die USA seit 1945 aufgebaut hat. Alle multilateralen Organisationen - wie WTO, UNO, NATO, KSZE - gingen auf US-Initiativen zurück. Trump bevorzuge hingegen den Alleingang, weil die USA in bilateralen Verhandlungen immer der stärkere Partner seien.

Kontextuelle Intelligenz fehlt

Trump fehle die Fähigkeit zum Denken in kontextuellen Zusammenhängen. Das gilt für einseitige Strafzölle auf Exporte aus China und der EU ebenso wie für bilaterale Verhandlungen mit London, Berlin, Moskau, Peking, Tokio, Tel Aviv, Riad, Pjöngjang und so weiter. Trump will einfach immer gewinnen. Interessenausgleich sei für ihn das Gegenteil - ein Nullsummenspiel. So sei auch die angedrohte Aufgabe der NATO-Beistandsverpflichtung zu sehen. Russlands Verteidigungsausgaben betragen nur 8 Prozent von denen der NATO. Würde Deutschland die von den USA geforderten zwei Prozent aufbringen, würde dieses Land allein mehr ausgeben als ganz Russland, so Gärtner.

Mehr Schulden, gestiegenes Handelsbilanzdefizit

Trumps Rückzug von internationalen Abkommen führt weder zu einer Stärkung der USA noch zu einer Schwächung von Partnern oder Gegnern, konstatierte Gärtner. Im Gegenteil. Er verschärft das weltpolitische Klima und ist ein schlechtes Vorbild für Diktaturen und Autokratien. Überdies scheint die Bilanz mager: Trotz der harten Gangart mit Strafzöllen, sei das US-Handelsbilanzdefizit von 500 Mrd. (2016) auf 630 Mrd. Dollar (2019) gestiegen, die Staatsverschuldung im selben Zeitraum von 19 auf 25 Bio. Dollar und das Budget-Defizit von 600 Mrd. Dollar (drei Prozent des BNP) auf eine Bio. Dollar, also fünf Prozent des BNP.

Außenpolitik ohne Moral ist asozial

Trump wirkt für die internationale Politik erratisch, weil er sich nicht an Prinzipien messen lässt, die jahrzehntelang Gültigkeit hatten. Die USA seien daher auch nicht mehr der verlässliche Partner, der allein handlungsfähig ist. Die Folgen sind Multipolarität statt Multilateralität, vermehrte Alleingänge (auch anderer Länder) statt gemeinsam abgestimmte Vorgangsweisen, siehe Syrien, Libyen, Nahost usw. und die Abkehr von der geübten Praxis des Dialogs.

Die Ansage "Wer die Macht hat, hat das Recht" sei keine Basis für eine friedliche Welt, in der nur Interessen zählen. "Außenpolitik ohne Moral ist asozial und führt zum Desaster", warnte der Politologe. Auch der Kalte Krieg wurde beendet, weil man nach Prinzipien gehandelt habe. "Wir sollten daher zu den Werten der Helsinki-Schlussakte von 1975 zurückkehren, als Grundlage für ein weiteres gutes Miteinander in den internationalen Beziehungen."

* Anmerkung: Heinz Gärtner diskutierte im Club Carinthia mit dem Journalisten Matthew Karnitschnig vom US-Magazin Politico über die transatlantischen Beziehungen. Über die Positionen von Karnitschnig hat pressetext vergangene Woche berichtet. http://pte.com/news/20200228014

Über die Schlussakte von Helsinki 1975

Am 1. August 1975 unterzeichneten die Vertreter von 35 Staaten des West- und Ostblocks die Schlussakte der "Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" (KSZE) in Helsinki. Darin formulierten sie zehn Prinzipien zur Regelung ihrer Beziehungen. Sie bekannten sich:
- zur Achtung ihrer souveränen Gleichheit sowie der ihrer Souveränität innewohnenden Rechte,
- zum Verzicht auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt,
- zur Unverletzlichkeit der Grenzen,
- zur Achtung der territorialen Integrität aller Teilnehmerstaaten,
- zur friedlichen Regelung von Streitfällen,
- zur Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der anderen Teilnehmerstaaten,
- zur Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten,
- zur Achtung der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker,
- zur Entwicklung ihrer Zusammenarbeit gemäß der Ziele und Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen,
- zur Erfüllung ihrer völkerrechtlichen Verpflichtungen nach Treu und Glauben.

Darüber hinaus verständigten sich die Teilnehmerstaaten auf eine Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Umwelt sowie über vertrauensbildende Maßnahmen im militärischen Bereich. Letzteres umfasste die gegenseitige Ankündigung und Beobachtung von größeren Militärmanövern, Abrüstungsvereinbarungen wurden nicht getroffen. Die Schlussakte von Helsinki hatte keinen verbindlichen Vertragscharakter, sondern beruhte auf Selbstverpflichtung ohne Kontrollinstrument.

Univ.-Prof. Dr. Heinz Gärtner war zuletzt Direktor des Österreichischen Instituts für Internationale Politik (oiip) und Vortragender am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Wien, an der diplomatischen Akademie Wien und an der Donau Universität Krems. Er hält regelmäßig Vorträge an amerikanischen, europäischen und asiatischen Universitäten und Forschungsinstituten. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem Europäische und internationale Sicherheitspolitik, Abrüstung und Rüstungskontrolle.

(Ende)
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