pts20041007027 Medizin/Wellness, Politik/Recht

Psychische Gesundheit in Osteuropa

Von der Verwahrung zur Integration


Kongresszentrum Bad Hofgastein (pts027/07.10.2004/14:18) 7. European Health Forum Gastein 2004
"Globale Herausforderungen für die Gesundheit Europäische Zugänge und Verantwortlichkeiten"

Psychische Gesundheit in Osteuropa: Von der Verwahrung zur Integration

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Um psychische Gesundheit ist es in den mittel- und osteuropäischen Staaten in mehrfacher Hinsicht schlechter bestellt als in Westeuropa: Viele reagieren auf die massiven gesellschaftlichen Umbrüche der letzten Jahre mit Depressionen und Angststörungen, flüchten in Drogen- und Alkoholkonsum oder begehen Selbstmord. Die Psychiatrie war jahrzehntelang von westlichen Entwicklungen abgeschnitten. Psychiatriepatienten müssen sich erst einen Platz in der Gesellschaft erkämpfen. Beim 7. European Health Forum Gastein ist ein Schwerpunkt dem Thema "Psychische Gesundheit" gewidmet. Besonderes Augenmerk wird auf die Lage psychisch Kranker in Osteuropa gelegt.

Erschreckende Selbstmordraten in Osteuropa
Es ist schwer, über die psychische Befindlichkeit eine Nation zu urteilen. Selbstmordzahlen sind oft ein Surrogat dafür. Aus dem WHO-Atlas von 2003 geht hervor, dass im Jahr 2001 die Sterblichkeit aufgrund von Selbstmord und selbst zugefügten Verletzungen mit 44 Fällen auf 100 000 Einwohnern in Litauen die höchste in der ganzen Europäischen Region war und den EU-Durchschnitt um das Vierfache überstiegen hat. "Litauen ist ein extremes Beispiel, aber bei weitem nicht das einzige. In den meisten Staaten Mittel- und Osteuropas ist zu beobachten, dass viele Menschen nicht mit der neuen Situation zurechtkommen", erklärt Dainius Puras von der Universität Vilnius, Litauen, beim EHFG. Nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung ist der schnelle Aufschwung ausgeblieben. Viele kämpfen mit bitterer Armut. Besonders Männer hätten mit dem radikalen Wandel gesellschaftlicher Normen und Rollenmodelle zu kämpfen: "In manchen Staaten übersteigt die Suizidrate der Männer die der Frauen um das Fünffache", so Puras. Die existentielle Unsicherheit führe zudem zu einer Vielzahl zu stressbedingten Krankheiten. Gewalttätiges, riskantes Verhalten und selbstzerstörerischer Lebensstil seien Ventile für das Gefühl von Lebensangst und Hilflosigkeit und führten vielfach zu verfrühtem Tod.

Wie kann geholfen werden?
Psychische Krankheiten wie Depressionen sind auch in vielen Staaten Westeuropas mit Stigmata behaftet. In Osteuropa ist es nicht anders. Generell muss versucht werden, die Schwelle zu einem Hilfsangebot so niedrig wie möglich zu halten - hinsichtlich Kosten, Nähe und sozialer Akzeptanz. "Wenn Hilfsangebote für Menschen für psychische Probleme nicht auf den lokalen Kontext Rücksicht nehmen und die vorhandenen Ressourcen nicht einbeziehen, dann sind sie so gut wie umsonst", findet EHFG-Expertin Rachel Jenkins, Professorin am King's College in London. Eine Bausch- und Bogenpolitik nach dem Motto "Gleiches Angebot für alle" verfehle ihr Ziel. Ein litauischer Kleinbauer, der im Zuge der EU-Erweiterung sich und seine Familie nicht mehr mit die traditionelle Arbeit erhalten kann, der klassischen Männerrolle nicht mehr entspricht und deswegen in Depression und Alkoholismus verfällt, braucht eine Unterstützung, die genau auf seine Bedürfnisse als Mann, als Landbewohner, als Mitglied einer kleinen Dorfgemeinschaft zugeschnitten ist. Das Angebot soll nicht nur erreichbar sein: Es muss vor allem für ihn annehmbar sein.

Verwahrung statt Integration psychisch Kranker
Die psychiatrischen Einrichtungen in den ehemaligen Ostblockstaaten sind noch immer von den Schatten der Vergangenheit belastet. "Die neuen EU-Staaten haben zwar in vielen Bereichen ungeheuer aufgeholt, die psychische Gesundheit ist allerdings immer noch ein Stiefkind", betont David McDaid von der London School of Economics & Political Science. Es herrsche allgemeiner Konsens darüber, dass weder die Organisation des Angebots noch die Behandlungen selbst mit denen im Westen Schritt halten können. "Das ist kein Wunder, wenn man bedenkt, dass psychiatrische Kliniken und Heime lange als reine Verwahrungsanstalten betrachtet wurden, wenn nicht gar als politische Repressalie für Oppositionelle", erklärte McDaid. Jahrzehntelang seien die Staaten des ehemaligen Ostblocks von den internationalen Entwicklungen abgeschnitten gewesen, Zugänge zu Fachzeitschriften, Kongressen oder anderen Formen des Informationsaustausches waren blockiert.

Menschenrechtsverletzungen in der Psychiatrie
"Psychisch Kranke sind in der Klinik, um behandelt, nicht um bestraft zu werden", unterstrich Patientenvertreter Stefan Bandol von der Aripi Organisation, Rumänien. In vielen psychiatrischen Krankenhäusern würden "schwierige" Patienten immer noch mit Elektro-Schock oder einer zu großen Dosis Beruhigungsmitteln "ruhig gestellt". "Damit erreicht man viel zu oft, dass der Patient zu einem willenlos dahinvegetierenden Geschöpf wird", kritisiert Bandol. Auch McDaid berichtet von unhaltbaren Zuständen in vielen osteuropäischen Einrichtungen: "In manchen ungarischen Heimen ist die Bewegungsfreiheit der Patienten stark eingeschränkt, ihre Privatsphäre wird nicht respektiert, der Zugang zu Medikamenten ist sehr beschränkt. Der Europarat hat auch in aller Schärfe verurteilt, dass die streng verbotenen Käfigbetten immer noch verwendet werden." Nach Schätzungen der WHO werden weltweit 65 Prozent der Betten in Nervenkliniken angeboten, wo die Bedingungen katastrophal sind.

Wenige Ressourcen für psychische Gesundheit
"Es wird wenig für diesen Bereich ausgegeben, die Aus- und Fortbildung von psychiatrischem Personal oder Sozialarbeitern lässt zu wünschen übrig. "Es wäre auch schon viel erreicht, wenn es eine bessere Kooperation zwischen psychiatrischen und anderen sozialen Einrichtungen gebe. Ungarns psychiatrische Kliniken sind von den vielen Drogen- und Alkoholabhängigen überfüllt, dabei könnte hier durch externe Betreuungsangebote Entlastung geschaffen werden", so McDaid.

Steiniger Weg zur sozialen Integration
"Wir waren sehr optimistisch, dass die Situation für psychisch Kranke nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in wenigen Jahren besser werden würde, gerade was die Öffnung der psychiatrischen Anstalten und die sozialen Integration der Patienten betrifft. Inzwischen ist dieser Optimismus dem Gefühl gewichen, dass etwas mit den Reformen falsch gelaufen ist." Die neuen Einrichtungen mit alternativen Hilfsangeboten für psychisch Kranke überlebten nur mithilfe der Unterstützung internationaler Organisationen und seien Exoten geblieben. Die traditionellen Krankenhäuser und Heime hätten trotz angespannter finanzieller Lage ihre Position weiter verfestigt. Der breiten Öffentlichkeit sei der Integrationsgedanke noch völlig fremd. "In Osteuropa ist mit wenig Toleranz für Schwache und Außenseiter zu rechnen. Sie werden in einer gesellschaftlich schwierigen Lage eher zu Sündenböcken gemacht."

Fluch und Segen neuer Psychopharmaka
Zwiespältig ist die Rolle der internationalen Pharmaindustrie, die die neuen EU-Staaten nun mit neuen Medikamenten versorgt. "Es ist natürlich gut, wenn es endlich innovative Arzneien zur Behandlung psychischer Störungen auch im Osten gibt. Aber wenn die knappen Ressourcen nur in Tabletten gesteckt werden, haben dringend nötige psychosoziale Therapieansätze keine Chance, jemals in den ehemaligen Ostblockstaaten eingeführt zu werden", erklärte Puras. Litauens Gesundheitssystem wendet durchschnittlich zwei bis drei Millionen Euro auf, um alle Ausgaben für moderne Psychopharmaka zu decken, anstatt die gesamten Kosten für die präventive und rehabilitierende psychiatrische Behandlung von Kindern und Jugendlichen zu übernehmen, kritisierte Puras.

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