pte20210401021 Politik/Recht, Medizin/Wellness

Lockdown: Was sagt der Inzidenzwert aus?

Statistik-Professor erklärt Entscheidungsgrundlagen der Politik


Andreas Quatember: Erklärt die Inzidenz (Foto: jku.at)
Andreas Quatember: Erklärt die Inzidenz (Foto: jku.at)

Wien/Linz (pte021/01.04.2021/13:55)

Ab heute, Donnerstag, bis zum 11. April läuft der harte Oster-Lockdown in Ostösterreich, konkret in Wien, Niederösterreich und im Burgenland. Gesundheitsminister Rudolf Anschober begründet die Maßnahmen – Ausgangssperren, Schließung aller Geschäfte außer der Lebensmittelketten und Apotheken – mit der steigenden Inzidenz. Der harte Lockown soll zum „Wellenbrecher" der steigenden Kurve werden. pressetext hat Dr. Andreas Quatember, Professor für Datengewinnung und Datenqualität am IFAS - Institut für Angewandte Statistik an der Johannes Kepler Universität JKU Linz über die Aussagekraft der 7-Tages-Inzidenz gefragt.

pressetext: Zu Inzidenz findet sich auf Wikipedia die Definition "Zahl der Neuerkrankungen,  in einem Jahr pro 100.000 Menschen." Ist die „7-Tages-Inzidenz" aufgrund der kurzen Zeitspanne aussagekräftig?

Dr. Quatember: Die 7-Tages-Inzidenz ist ein Kompromiss zwischen der gewünschten Tagesaktualität der Entwicklung der Zahl an Neuinfektionen auf Basis der positiven Tests und dem beobachtbaren auftretenden Rhythmus von Meldungen und Testungen (am Wochenende wird weniger getestet und auch weniger gemeldet), da sie jeweils einen der sieben Wochentage beinhaltet.

pressetext: Welche Aussagen kann man aufgrund von Messwerten von 7 Tagen über die Zukunft treffen?

Dr. Quatember: Die 7-Tages-Inzidenz beschreibt die aktuelle Entwicklung des Infektionsgeschehens auf Basis der positiven Tests unter den jeweils gegebenen Bedingungen (den jeweils gültigen Maßnahmen und deren Einhaltung). Ein so wichtiger Rückschluss auf die zukünftige Bettenauslastung in den Spitälern ist allein auf die Entwicklung der 7-Tages-Inzidenzen basierend nur bedingt möglich, da die Anzahl an gemeldeten Neuinfektionen ja auch davon abhängt, wie viel getestet wird. Wird mehr getestet, wird auch ein Teil der sonst gänzlich verborgen bleibenden asymptomatischen Fälle (Dunkelziffer) entdeckt. Dies alleine würde die Bettenauslastung in den Spitälern noch nicht erhöhen. Wird aber wie derzeit in Österreich konstant viel getestet und es steigt die 7-Tages-Inzidenz weist dies schon auf eine aktuelle Erhöhung des Infektionsgeschehens hin. Eine weitere Größe, die für einen Blick in die nahe Zukunft bedeutsam ist, ist der sogenannte R-Wert, der angibt, wie viele Personen von einer infizierten Person angesteckt werden. Steigt diese Zahl, wird sich das demnächst auch auf die Spitalsbettenauslastung auswirken.

pressetext: Wie aussagekräftig ist die 7-Tage-Inzidenz in Bezug auf geografische Abgrenzung (nach Bundesländern)?

Dr. Quatember: Geografische Abgrenzungen sind immer irgendwie willkürlich. In Österreich sind im Laufe der gesamten Pandemie bei genauerer Betrachtung immer wieder in verschiedenen Bundesländern einigermaßen große Unterschiede hinsichtlich des gemessenen Infektionsgeschehens aufgetreten. Dasselbe gilt wieder für einzelne Regionen innerhalb der Bundesländer.

pressetext: Wie berechnet man die 7-Tage-Inzidenz in Bezug auf 3.164 Einwohner eines Dorfes – ist so eine Rechnung überhaupt zulässig bzw sinnvoll? (Hintergrund: der Kurier vom 17.3.2021 brachte einen Artikel mit der Headline „Corona-Busfahrt mit Nachwirkung". Untertitel: „Zehn Tage danach. Video zeigt Demo-Anreisende ohne Maske. Nun explodieren die Infektionszahlen." Weiter im ersten Absatz: „Zehn Tage später verzeichnet Arzl im Tiroler Pitztal einen neuen Corona-Cluster. Die Inzidenz liegt bei 1.106. Auch der Busunternehmer stammt von dort."

Dr. Quatember: Die Berechnung auf 100.000 Einwohner (Zahl der gemeldeten Infektionen der letzten 7 Tage : 3164 * 100.000) dient dem (bundes-)länderübergreifenden Vergleich, wobei auch dabei verschieden starkes Messaufkommen zu berücksichtigen wäre. Umso geringer aber die Einwohnerzahl der betrachteten geografischen Einheit, desto weniger aussagekräftig ist sicherlich diese Zahl in Hinblick auf zu setzende Maßnahmen. Im besagten Beispiel führte offenbar ein nachvollziehbarer, eingrenzbarer Cluster dazu, dass der Wert in den Gebiet über 1000 lag. Wenn tatsächlich ein solcher Cluster vorliegen würde, den man durch Quarantänemaßnahmen der betroffenen Personen und ihrer Kontaktumgebung "behandeln" kann, wäre es unnötig, das ganze Tal zu isolieren, nur weil seine 7-Tage-Inzidenz so hoch ist. Stellen Sie sich eine extrem kleine Gruppe von 10 Personen vor: Ist nur eine davon positiv, so ist die Inzidenz 10.000 auf 100.000.

Andreas Quatember ist Autor des Buches „Statistischer Unsinn: Wenn Medien an der Prozenthürde scheitern", erschienen 2015 im Verlag Springer Spektrum. https://www.springer.com/de/book/9783662453346#


 

(Ende)
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