pts20170731027 Technologie/Digitalisierung, Medizin/Wellness

Digitalisierung im Gesundheitswesen: Evolution oder Revolution?

Information von Mag. Dr. Hans Burkard (Aktives ADV-Mitglied, hb-strategy)


Mag. Dr. Hans Burkard (Foto: ADV/M. Brank)
Mag. Dr. Hans Burkard (Foto: ADV/M. Brank)

Wien (pts027/31.07.2017/12:30) Das Gesundheitssystem in hoch entwickelten Volkswirtschaften wie Österreich ist in vielerlei Hinsicht äußerst komplex. Die unterschiedlichen PlayerInnen des Systems sind in starken Traditionen verwurzelt und arbeiten seit Generationen in eng verzahnten, in sich wohl ausgereiften Prozessen. Klare Hierarchien sind die Säulen einer sorgsam und politisch ausgewogenen Mächtebalance. Und trotz einer immer wieder aufkommenden Kritik, kann dieses nun schon Jahrhunderte hindurch kontinuierlich, in kleinen, aber auch in großen Schritten verbesserte Gesundheitssystem auf eine traditionsreiche Erfolgsgeschichte zurückblicken. Damit erhält die Kontinuität jede erdenkliche Legitimation. Viele meinen daher mit gutem Grund, dass in einem derart ausgereiften, stabilen System Verbesserungen ausschließlich kontinuierlich stattfinden können und müssen.

Alles andere sei eine Illusion. Disruptive, revolutionäre Entwicklungen wären, abgesehen von Nischenbereichen, weder wünschenswert noch möglich. Dies gelte tatsächlich auch gerade jetzt, bei dem aktuellen Technologieschub, den wir gemeinhin als "Digitalisierung" bezeichnen. Kernstück dieses ausgereiften Gesundheitssystems sind qualitätsgesicherte Prozesse. Prozesse und Qualität, genau hier könne die Digitalisierung einen enormen evolutionären Schritt nach vorne bewirken. Ein Schritt mit außergewöhnlicher Dimension.

Ein anschauliches Beispiel dafür gibt der Komplex "Evidence Based Medicine (EBM)" beziehungsweise "Evidence Based Nursing (EBN)". Evidenzbasierte Behandlungsmethoden in Medizin und Pflege zielen darauf ab, jeder Patientin, jedem Patienten die bestmögliche, auf weltweiter "best practice" aufbauende Behandlung zukommen zu lassen. Solange diese Evidenzbasierung jedoch nur auf Bücher und Druckwerke zugreifen kann, ist ihre Bedeutung für die medizinische Praxis enorm eingeschränkt. Erst die Digitalisierung macht es möglich, dass durch jederzeitig möglichen Zugriff die weltweite "best practice" wirklich auch in der Praxis umsetzbar wird.

Mehr noch: durch algorithmische Einbindung in die digitale Workflow-Unterstützung werden evidenzbasierte Behandlungsvorschläge Grundlage jeder Behandlung. Intelligente Algorithmen können komplexe Zusammenhänge erkennen, die nach traditionellen Methoden oft erst viel später oder nur sehr schwer erkennbar sind. Somit können bereits frühzeitig Alerts ausgelöst und geeignete Maßnahmen ergriffen werden. Damit wird flächendeckend, also gleichermaßen in einem entlegenen Ambulatorium wie in der Universitätsklinik einer Metropole, eine enorme Qualitäts- und Effizienzsteigerung möglich.

Das ist keine Zukunftsmusik: Durch ein Maßnahmenpaket der US-Regierung, oft als "Meaningful Use Program1" bezeichnet, ist der Einsatz derartiger Systeme USA-weit zum quasi-Standard geworden. Ihr Einsatz setzt sich jedoch auch in Europa und in Österreich immer mehr durch. Neben diesen generellen prozessorientierten Verbesserungen ermöglicht die derzeitige Digitalisierungswelle natürlich auch jede Menge anderer Aufsehen erregender Qualitätsverbesserungen, von Tele-Chirurgie über Screening-Verfahren in den verschiedensten medizinischen Bereichen bis zu sich selbst auflösenden Chips in Medikamenten, mit denen man deren Einnahme verfolgen kann. Alle diesen Entwicklungen kann in einem evolutionären, kontinuierlichen Verbesserungsmodell des Gesundheitswesens durchaus ihr Platz zugewiesen werden.

Diesem Ansatz folgend, präsentierte bis vor Kurzem Gartner Inc., das weltweit führende Unternehmen im Bereich IT-Trend Research, ein fünf-Stufenmodell für die Entwicklung der IT-Systeme im Gesundheitsbereich: In den frühen Stadien hatte die IT die Rolle des einfachen Sammlers von Daten. Die zweite Stufe ist dann jene der IT als Dokumentierer gewesen. Die dritte Stufe der IT im Gesundheitsbereich, die zumindest in den USA bereits quasi Standard geworden ist, bezeichnet Gartner als IT als Helfer. Kennzeichnend für diese dritte Stufe sind die oben angeführte IT-Unterstützungen bei evidenzbasierten Behandlungsmethoden, Alert Systeme sowie signifikante Effizienzverbesserungen der Behandlungsprozesse, Ordersets, PatientInnenkommunikation etc.

Spannend und nicht ganz konfliktfrei kommunizierbar war die von Gartner prognostizierte konsequente Weiterentwicklung in diesem Modell der kontinuierlichen Emanzipation der IT im Gesundheitsbereich, die Stufen vier und fünf: IT als Kollege/Kollegin (Stufe 4) und dann schließlich krönend, als Mentor/Mentorin von ÄrztInnen und PflegerInnen (Stufe 5).

Seit etwa einem Jahr zeichnet Gartner ein komplett anderes Bild: Die ersten drei Etappen der Healthcare-IT (SammlerInnen - DokumentiererInnen - HelferInnen) sind gleichgeblieben. Sie sind ja bereits weitgehend Realität geworden. An Stelle der Etappen vier und fünf tritt jedoch plötzlich ein großes Fragezeichen: Ab jetzt sieht Gartner keine kontinuierliche, sondern eine disruptive Weiterentwicklung der IT im Gesundheitsbereich. Damit stellt sich Gartner klar in jenes immer größer werdende Lager, welches nicht eine evolutionäre, sondern eine revolutionäre Entwicklung im Gesundheitsbereich zu erkennen meint. Ohne das kontinuierliche Verbesserungspotential im Prozessbereich anzuzweifeln, erkennt Gartner wie viele andere auch einen starken Trend, weg von hierarchischen Prozessen, hin zu Beziehungen und Vernetzungen. Genau in Letzterem sehen sie die Möglichkeit einer disruptiven Gestaltung des Gesundheitswesens.

Drei Faktoren sind für diesen Trend auschlaggebend: Allen voran der dramatische demografische Wandel durch das starke Anwachsen der älteren Bevölkerung, sowie durch die beschleunigte Urbanisierung, gekoppelt mit steigender Unterversorgung im ländlichen Bereich. Der zweite Faktor ist eine Konsequenz des Ersten: Unter derart geänderten Rahmenbedingungen erweist sich das herkömmliche Gesundheitssystem als nicht mehr finanzierbar und führt zu Engpässen im Pflege- und Ärztepersonal. Der dritte Faktor kommt aus einer ganz anderen Richtung: der Digitalisierung. Healthcare-Plattformen und Netze führen zu einer bisher nicht dagewesenen Mündigkeit der PatientInnen. Digitale Kommunikation und Kollaboration ermöglicht ganz neue Formen intensiven Austauschs und Zusammenarbeit aller Beteiligten. Gesundheitsdienste-AnbieterInnen, PatientInnen und deren Familien und Freunde; "klinische Wearables" ermöglichen zunehmend einen kontinuierlichen virtuellen Gesundheitscheck.

IoT bringt Dynamik in bisher vorwiegend statische Systeme und Prozesse und der Zeitpunkt scheint nahe, wo Genomik (und andere "-nomik's") sowie personalisierte Medizin die derzeit existierenden Formen von Therapie aber auch die damit verbundenen Märkte verändern wird. Konkrete Beispiele dieser disruptiven Ansätze gibt es derzeit in derartiger Vielfalt, dass ihre Aufzählung den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde. Interessant ist die Frage, ob an Hand dieser Beispiele bereits klare Tendenzen erkennbar sind. Auch wenn sich bereits einzelne größere Trends, wie oben erwähnt erkennen lassen, ist es sicher noch zu früh für die Zeichnung klarer Konturen, wie ein disruptives, ein revolutionär ausgelegtes Gesundheitssystem aussehen kann oder soll.

Und, last but not least, sind noch jede Menge durch den Digitalisierungsschub neu entstandene Fragen zu den Themen Datenschutz und Datensicherheit zu klären, handelt es sich hier doch um besonders sensible Datenbereiche. Dennoch kann man meines Erachtens zusammenfassend festhalten: Es ist richtig anzunehmen, dass das derzeitige Gesundheitssystem nicht aus sich selbst heraus einen disruptiven, "revolutionären" Schritt betreiben wird.

Es sind jedoch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die eine radikale Änderung nötig machen, und es ist die Digitalisierung, die diese möglich macht: Allen voran die "digital mündigen" PatientInnen, welche die bestehenden und traditionsreichen Prozesse und Strukturen einfach durch ihr vernetztes Denken, Handeln und durch eine kontinuierliche Gesundheits-Awareness aushebeln. Aber es ist auch die immer intensivere und intelligentere Vernetzung von beteiligten Personen, Institutionen, "Dingen", Daten und Fakten, die gänzlich neue Horizonte eröffnen und das Gesundheitssystem ganz neu denken lassen.

(Ende)
Aussender: ADV Arbeitsgemeinschaft für Datenverarbeitung
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