pts20090804016 Politik/Recht, Medien/Kommunikation

Professor Paul: "Muslime durch Patientenverfügung möglicherweise benachteiligt"

Tipps zu immateriellen Vorsorgeregelungen im "vorjurlife"-Expertenforum


Wiesbaden/Mainz (pts016/04.08.2009/12:10) Am 18. Juni 2009 hat die Bundesregierung ein Gesetz zur Patientenverfügung beschlossen, das am 1. September 2009 in Kraft treten wird. Auf dem Bundeskongress "vorjurlife" (mehr Infos siehe http://www.vorjurlife.de) am 27./28.11. in Darmstadt diskutieren führende Experten über die Auswirkungen, die dieses Gesetz zur Folge hat und erarbeiten Lösungen und Abläufe für alle am Prozess der Patientenverfügung (wie auch anderer Vorsorgeverfügungen beteiligten Parteien. Zu diesen zählen u.a. Patienten/Angehörige/Betreuer, Ärzte/Kliniken, Juristen/Notare, Krankenkassen/Versicherungen, Altenpflegeheime/Hospizstiftungen, Politik und Interessensverbände, Kirchen. Im Vorfeld des Kongresses erhalten Persönlichkeiten das Wort, die sich seit Jahren mit diesem Thema beschäftigt haben und die sich jetzt aktiv mit Lösungsvorschlägen für eine praktikable Umsetzung des Patientenwillens engagieren. Das "vorjurlife"-Expertenforum wird eröffnet durch Univ.-Prof. Dr. Norbert W. Paul, M.A. von der Universität Mainz. Er leitet das Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universitätsmedizin Mainz und bietet einen Fernstudiengang für den Masterstudiengang Medizinethik an, für den sich Interessenten noch bis zum 1.9.09 bewerben können. Im "vorjurlife"-Expertenforum beantwortet Prof. Paul Fragen zu Problemen, die sich bei der Umsetzung von Patientenverfügungen stellen können.

Was ist nach erfolgtem Gesetzesbeschluss für die Patienten wie für die behandelnden Ärzte jetzt besser geworden, was ist nach wie vor problematisch?
Mit dem Gesetzbeschluss wird die Bedeutung der Selbstbestimmung von Patienten am Lebensende betont. Damit erhalten Patienten die Möglichkeit, vorab zu erklären, welche Ziele sie persönlich mit einer medizinischen Behandlung in der letzten Phase ihres Lebens verbinden. Für Ärztinnen und Ärzte ist der Beschluss ein Signal, die Bindungskraft von Patientenverfügungen anzuerkennen und die Dokumente im Rahmen der Therapiezielfindung als erklärten Patientenwillen einzubeziehen. Problematisch ist, dass exisitierende Patientenverfügungen unabhängig von ihrer Form nun mit erheblicher rechtlicher Reichweite versehen sind. Oftmals sind Dokumente - auch wenn sie unter anwaltlicher oder notarieller Beratung erstellt wurden - für eine klinische Anwendung nicht hinreichend differenziert, deutungsoffen oder widersprüchlich. Eine qualifizierte medizinische Beratung könnte hier Abhilfe schaffen. Auch eine explizite Bezugnahme auf persönliche Werthaltungen kann dazu beitragen, die Deutungsoffenheit des voraus verfügten Willens zu minimieren.

Wie kann oder sollte im konkreten Fall ein Patientenwille umgesetzt werden, wenn ein vorausverfügter Therapieverzicht vorliegt - es für die behandelnden Ärzte aber therapeutische Optionen gibt?
Pointiert formuliert bedeutet ein Therapieverzicht insbesondere bei einer nicht zum Tode verlaufenden Erkrankung die Verpflichtung zur Teilnahme an passiver Sterbehilfe. Eine häufige Formulierung in Patientenverfügungen sieht Behandlungsverzicht und die Einstellung von Maßnahmen der künstlichen Ernährung vor, wenn der Patient kognitiv eingeschränkt ist und absehbar nicht mehr in der Lage sein wird, seinen Willen zu bilden und zu äußern. Dies ist z.B. im Rahmen einer fortgeschittenen Demenzerkrankung der Fall, obwohl Demenz-Patienten durchaus bei adäquater Zuwendung mit guter Lebensqualität leben können. Hier durch Einstellung der Ernährung - etwa durch eine Sonde - und weiterer indizierter Maßnahmen - etwa einer indizierten Antibiose - das Sterben eines Patienten zu induzieren, ist aus ethischer Sicht problematisch und widerspricht der ärztlichen Berufsauffassung.

Was sollte, muss in einer Patientenverfügung stehen?
Eine Patientenverfügung muss detaillierte Angaben zu den medizinischen Bedingungen enthalten, unter denen sie Geltung haben soll. Nicht jeder Zustand eines Patienten, in dem er (vorübergehend) nicht in der Lage ist, seinen Willen zu bilden und zu äußern, sollte zum Vollzug der Patientenverfügung führen. Das Dokument sollte darüber hinaus festlegen, wer der Bevollmächtigte des Patienten sein soll. Dieser sollte vorab über die Patientenverfügung informiert werden und schriftlich seiner Rolle als Vorsorgebevollmächtigter zustimmen. Bei der Wahl dieses Stellvertreters ist darauf zu achten, dass dieser im Sinne des Patienten entscheiden kann und seine Entscheidungen im Ernstfalle nicht durch eigene Interessen oder Emotionen überlagert sind. Hilfreich ist es, wenn eine Patientenverfügung Angaben zu persönlichen Werthaltungen oder spirituellen bzw. religiösen Haltungen enthält. Häufig vergessen wird, dass eine Patientenverfügung auch Angaben über die Organspende enthalten kann. Will ein Patient Organspender werden, so wird die Behandlung im Sinne der Organprotektion in der Regel - bei minimaler Belastung des Hirntoten - länger fortgesetzt als wenn keine Bereitschaft zur Spende vorliegt. Hierüber muss adäquat aufgeklärt werden und eine Abwägung zwischen der Bereitschaft zur Hilfe, auch als Sinngebung im eigenen Sterben und dem Verzicht auf Therapie als Ausdruck der Selbstbestimmung sollte reflektiert und eindeutig in der Patientenverfügung erfolgen.

Welche Möglichkeiten gibt es, einen mutmaßlichen Patientenwillen zu erfragen?
Die Ermittlung des mutmaßlichen Patientenwillens ist vor allem auf die Rekonstruktion früherer Lebensentscheidungen angewiesen. Das Klinische Ethikkomitee der Universitätsmedizin Mainz etwa legt im Rahmen der klinisch-ethischen Beratung per se einen Ansatz der rekonstruktiven Ethik zugrunde. Dieser ist als Leitlinie für das gesamte Klinikum etabliert, so dass auch ohne Beratung durch Ethiker Ärztinnen und Ärzte die Grundzüge der Ermittlung des mutmaßlichen Patientenwillens beherzigen. Dies beinhaltet inbesondere Gespräche mit den Angehörigen, Analyse von Optionen und Präferenzen sowie eine Abwägung von Therapiezielen und persönlichen Zielen des Patienten.

Sollte es ein Zentralregister für Patientenverfügungen geben, damit im Notfall Ärzte und Kliniken und Betreuer darauf ohne Suche einen schnellen Zugriff haben?
Ein Zentralregister ist eine zweischneidige Sache. Zum einen würde es den Zugriff erleichtern, aber lediglich um den Zugewinn, dass keine Patientenverfügung länger unberücksichtigt bliebe. Dies kann auch durch die Einführung entsprechender Standards bei der Patientenaufnahme geschehen, im Notfall wäre eine Notfallkarte hilfreicher. Zielführender scheint ein Modell zu sein, in dem der Hausarzt einen Patienten bei der Erstellung der Verfügung berät und eine Kopie in den Krankenakten aufbewahrt. Der Hausarzt wird so zur wichtigen und authentischen Ressource bei der Ermittlung des Patientenwillens. Gleichzeitig kann eine Notfallkarte ausgegeben werden, auf der der Name des Hausarztes und des Bevollmächtigten mit den entsprechenden Kontaktdaten aufgeführt ist. Dies überlässt die informationelle Selbstbestimmung ganz dem Patienten, er muss keine Daten in eine - womöglich kostenpflichtige - Datenbank weitergeben und kann jederzeit ohne Aufwand und ohne Zeitverzug Veränderungen inhaltlicher und formaler Natur vornehmen.

Sollte auf einer Notfallkarte vermerkt sein, dass eine Patientenverfügung vorliegt und wo diese zu finden ist? Und sollten die Bundesbürger diese Notfallkarte immer bei sich tragen?
Dies ist sicherlich eine gute Idee, die mit geringem Aufwand - wie etwa beim Organspendeausweis - realisierbar ist.

Welche Probleme stellen sich aus medizinethischer Sicht trotz Gesetzesbeschluss bei der Umsetzung eines Patientenwillens, u.a. bei religiösen und/oder ethisch beeinflussten Vorausverfügungen?
Religiöse, spirituelle oder ethische Werthaltungen können die gleiche Wirkmächtigkeit bei der Umsetzung eines Patientenwillens entfalten, wie andere Argumente für oder wider eine Therapie. Sie sind im Sinne der Wahrung der Selbstbestimmung ebenso zu beachten wie etwa medizinische Befunde. Gelegentlich erscheinen Entscheidungen, die auf der Basis solcher Werthaltungen oder Überzeugungen getroffen werden als irrational und es besteht eine Neigung, sie zu übergehen. Beispiele sind etwa die Verabreichung von ungewollten Transfusionen bei Zeugen Jehovas. Der weitaus häufigere Fall ist jedoch eine Nicht-Berücksichtigung von Grundbedürfnissen der Angehörigen von Glaubensgemeinschaften. Dies zeigt sich etwa immer wieder am Umgang mit muslimischen Patienten, die ja regional ca. 30% der Behandlungsfälle in einem Klinikum ausmachen können. In einer Studie konnten wir übrigens belegen, dass die Bereitschaft von Muslimen in Deutschland, eine Patientenverfügung anzufertigen aus der religiösen Grundhaltung der Ergebenheit in den Willen Gottes heraus sehr gering ist. Hier wird möglicherweise eine spezifische Form der Benachteiligung entstehen.

An wen richtet sich Ihr Masterstudiengang Medizinethik, den die Johannes Gutenberg-Universität Mainz als berufsbegleitenden Fernstudiengang anbietet? Welche Ziele verbinden Sie damit?
Der Masterstudiengang Medizinethik richtet sich an im Gesundheitswesen oder in einem gesundheitsnahen Bereich Tätige. Einige der Studierenden sind auch Geisteswissenschaftler, die im Bereich der Medizinethik tätig werden wollen. Voraussetzung für die Bewerbung ist ein abgeschlossenes Studium. Unser Masterstudiengang vermittelt zunächst in vier Modulen theoretische Grundlagen der Ethik und der philosophischen Anthropologie. In vier weiteren Modulen werden Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten der klinischen Ethik vermittelt und in Fallseminaren in Mainz trainiert. Ziel ist es, Beratern und Entscheidern an der Schnittstelle von Medizin und Ethik die Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln, die für die Lösung ethischer Probleme und Konflikte sowohl auf struktureller und institutioneller Ebene als auch im beidseitigen Entscheiden und Handeln im Einzelfall erforderlich sind.

Welche Themen sollten beim ersten Bundeskongress vorjurlife im Fokus stehen und aus welchen Gründen?
Sinnvoll wäre eine Beschäftigung mit spezifischen Reichweitenbegrenzungen der Patientenverfügung bei nicht zum Tode verlaufenden Erkrankungen. Ebenfalls erforderlich wäre ein Workshop zu konkreten Maßnahmen der Sicherstellung der Berücksichtigung von Patientenverfügungen und der Ermittlung des mutmaßlichen Patientenwillens im klinischen Kontext. Ergänzend erscheint die Behandlung von Fragen der Arzthaftung erforderlich.

Das Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin bietet in Kooperation mit der Europäischen Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen Bad Neuenahr-Ahrweiler GmbH einen weiterbildenden Masterstudiengang Medizinethik an. Das als Fernstudiengang konzipierte Studienprogramm bietet Ärztinnen und Ärzten sowie anderen an der Gesundheitsversorgung Beteiligten eine Weiterbildung parallel zum Beruf. Eine Bewerbung für das Wintersemester 2009/10 ist noch bis zum 01. September möglich!

Weitere Informationen und Kontakt:
Anika Mitzkat, M.Sc.
Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Mediziin
Universitätmediziin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Tel. 06131 - 39-35868
Fax: 06131 - 39-36682
E-Mail: mitzkat@uni-mainz.de
Web: http://www.uni-mainz.de/fb/medizin/medhist/

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Bundeskongress immaterielle Lebensvorsorge
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