pte20130202001 Unternehmen/Wirtschaft, Politik/Recht

"Der Fels in der Brandung ist derzeit Mario Draghi"

Schulmeister: Schuldenproblem kann nur systemisch gelöst werden


Wien (pte001/02.02.2013/06:00) Der europäische Fiskalpakt und die darin enthaltenen rigorosen Sparvorgaben entzweien die Geister. Kann sich Europa aus der Krise heraussparen oder schlittert der Kontinent dadurch noch tiefer in die Rezession? "Mit der Einhaltung des derzeitigen Fiskalpakts sehe ich keine Möglichkeit für einen selbsttragenden Aufschwung", so der österreichische Wirtschaftsforscher Stephan Schulmeister im pressetext-Interview. Der Träger des Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst I. Klasse kritisiert die Sparpolitik in Europa und plädiert dafür, Unternehmertum auf allen Ebenen besser zu stellen. Camerons Kehrtwende bezeichnet er als "innenpolitisch motiviertes taktisches Spiel". pressetext sprach mit Schulmeister über die Perspektivlosigkeit der spanischen Jugend, Aktien als Investment und den Selbsterhaltungsdrang der Eliten.

pressetext: Herr Schulmeister, es gibt erste Anzeichen, dass sich die Lage in der Eurozone langsam verbessert. Portugals erneuter Zugang zu den Kapitalmärkten sowie Mario Draghis "Whatever it takes"-Ausspruch geben Hoffnung. Ist Europa damit über dem Berg?
Schulmeister: Der wichtigste Faktor ist, dass die Sparpolitik in Europa verschärft wird. Der Fiskalpakt ist seit 1. Januar in Kraft. Er verpflichtet sämtliche EU-Länder zu zusätzlichen Sparanstrengungen. Das neue Regelwerk sieht vor, dass alle Länder ein strukturelles Defizit von maximal 0,5 Prozent haben dürfen. Der überwältigende Teil der Länder hat aber ein höheres strukturelles Defizit und muss nach diesen Regeln sparen. Wenn man dieses Vertragswerk einhält, dann sehe ich keine Möglichkeit, wie sich die Wirtschaft auf einen selbsttragenden Aufschwung hinbewegen kann.

pressetext: Sie gehören zu denjenigen, die immer die Austeritätspolitik von Bundeskanzlerin Merkel kritisiert haben. Ist Berlin in den vergangenen Jahren nicht doch der Fels in der Brandung gewesen?
Schulmeister: Meiner Meinung nach produziert es die Brandung. Der Fels, der die Stabilität gibt, ist im Moment eher Herr Draghi als Chef der Europäischen Zentralbank. Denn was wir konkret beobachten, ist: Je konsequenter eine Sparpolitik verfolgt wird, desto stärker steigt die Staatsschuldenquote. Das ist vollkommen eindeutig. Sie entwickelt sich mittlerweile kometenhaft in Ländern wie Spanien. Vorher ist sie in Griechenland in Höhen gestiegen, die bereits groteske Formen annehmen. Meine These war immer, dass die Staatsverschuldung bekämpft werden muss, aber das geht nicht mit einer Symptomkur.

pressetext: Wie soll man das Problem sonst angehen?
Schulmeister: Die Staatsverschuldung ist der Ausdruck eines schlecht funktionierenden Gesamten und kann als systemisches Problem auch nur systemisch therapiert werden. Das setzt voraus, dass Unternehmertum auf allen Ebenen besser gestellt wird, denn nur wenn die Unternehmer bereit sind, in höherem Maße ein Defizit zu machen, kann der Staat umgekehrt sein Defizit reduzieren. Anders funktioniert das nicht.

pressetext: Der britische Premier David Cameron hat unlängst angekündigt, dass er im Falle einer Wiederwahl im Jahr 2017 ein Referendum über den Verbleib in der EU abhalten möchte. Was halten Sie von dieser Idee?
Schulmeister: Die wirtschaftliche Lage in Großbritannien ist beunruhigend, die Arbeitslosigkeit ist stark gestiegen. Das Land ist schon wieder in einer Rezession. In einer solchen Situation ist es verständlich - wenn auch bedenklich - dass Politiker Außenfeinde mobilisieren. Das ist ein typisches Krisensymptom. Für die Briten ist die EU in den vergangenen Monaten und Jahren zu einem Außenfeind geworden. Mit dieser Ankündigung versucht Cameron eine Art Doppelspiel. Einerseits will er bis zu den Wahlen auf jeden Fall in der EU bleiben. Andererseits versucht er die Bevölkerung mit einem Köder zu locken. Ich halte das für innenpolitisch motivierte taktische Spiele, die - wenn es schlimm ausgeht - die Krise vertiefen werden.

pressetext: Die Krise ist mittlerweile in ihrem sechsten Jahr. Sie erwähnen oft auch ihre soziale Komponente. Hat sie damit eine ganze Generation geprägt?
Schulmeister: Das ist von Land zu Land ganz unterschiedlich. Natürlich in Griechenland, Spanien und in einem nicht unerheblichen Teil Italiens und Portugals ist die Lage erschütternd. Überall dort werden Grunderwartungen der jüngeren Generation enttäuscht. Sie müssen Verhaltensweisen setzen, die absurd erscheinen. Auf der einen Seite haben Millionen junger Leute ein Studium absolviert, auf der anderen Seite müssen sie jetzt aus den Städten aufs Land gehen und im Agrarsektor Hilfstätigkeiten ausführen. Oder sie entscheiden sich zu emigrieren.

pressetext: Und in Österreich?
Schulmeister: Bei uns würde ich nicht so weit gehen, denn die konkreten sozialen Folgen der Krise sind für die jüngere Generation in Österreich nicht wirklich abrupt spürbar geworden. Diese Generation hat schon seit zehn bis 15 Jahren zunehmende Probleme einen normalen sozialversicherten Job zu bekommen. Im Gegensatz zu Griechenland hat sich das durch die Krise aber nicht schlagartig geändert.

pressetext: Sie gelten als Kritiker des Finanzkapitalismus. Zahlreiche Banker werben wieder dafür, Aktien zu kaufen. Sie seien 2013 wieder ein sehr lohnendes Investment. Was geht Ihnen bei solchen Aussagen durch den Kopf?
Schulmeister: Dass ich keine Aktien kaufen werde. Man muss sich nur einmal die Kurse ansehen. Wir sind jetzt wieder bei den Höchstständen. Diese wurden bereits zwei Mal erreicht, in den Jahren 2000 und 2007. Die Wirtschaftsaussichten für Europa sind sehr gedämpft. Wenn die Banken den Amateuren zum Aktienkauf raten, dann ist das meistens in der Spätphase eines Aktienbooms. In der Frühphase decken sie sich nämlich erst einmal selbst ein. In der Regel gehören die Amateure zu den Verlierern, weil sie zu spät auf die Aufwärtstrends setzen und bei einer Abwärtsbewegung zu spät wieder aussteigen.

pressetext: Wird die Eurozone in ihrer jetzigen Form in fünf Jahren noch existieren?
Schulmeister: Ja, das glaube ich schon. Die Eliten besitzen einen ängstlichen Selbsterhaltungsdrang. Sie wissen nun - und wenigstens das haben sie verstanden - dass die Folgen eines Zusammenbruchs der Währungsunion einfach unabsehbar wären. Es käme zu Kettenreaktionen, die man nicht im Entferntesten konkret abschätzen kann. Wenn die Politik gegensteuern will, dann kann sie das auch. Draghi hat es vorgezeigt.

pressetext: Vielen Dank für das Gespräch!

(Ende)
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