pte19980720006 Politik/Recht

Montenegro: Flüchtlinge statt Touristen

Schon 15.000 vor Kämpfen im Kosovo geflohen - Hilfe bleibt aus


Podgorica (pte) (pte006/20.07.1998/08:00) Fast unbemerkt von der Weltöffentlichkeit und den internationalen Hilfsorganisationen hat sich der Schwerpunkt des Flüchtlingsstroms aus dem Kosovo nach Montenegro - der ärmsten Republik des ehemaligen Jugoslawiens - verlagert. Zusätzlich zu den Kosovo-Flüchtlingen befinden sich dort auch noch 30.000 "Altflüchtlinge" aus dem Bosnienkrieg, die ebenfalls versorgt werden müssen.

"Bisher haben wir 15.000 Kosovo-Flüchtlinge in unserer Republik", erläuterte dazu dieser Tage Informationsminister Bozidar Jaredic* in einem Exklusivinterview gegenüber MedCommunications. Alarmierend die Angaben des Flüchtlingskommissars der Republik, Djordjije Scepanovic, "Täglich kommen 250 - 300 Personen dazu."

Die intensiven Kämpfe um die zweitgröþte Stadt es Kosovo, Pec, haben mittlerweile dazu geführt, daþ allein in der vergangenen Woche 3.000 Menschen Zuflucht in Montenegro suchten. "Montenegro wird für immer mehr Flüchtlinge ein Hafen der Sicherheit," beschreibt Francesco Natta, Leiter des Büros des "United Nations High Commissioner for Refugees" (UNHCR) in Podgorica die dramatische Änderung. Die Gesamtzahl des UNHCR für Flüchtlinge in Albanien lautet dagegen 13.000. Verminung und wiederholte Gefechte im Grenzgebiet bilden eine schwer zu überwindende Barriere für die Zivilisten auf ihrem Exodus.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daþ diese Menschen von einer Republik in eine andere desselben Staates flüchten, aber bereits im Bosnienkonflikt hatte Montenegro unbemerkt vorexerziert, wie weit humanitärer Einsatz gehen kann. Der Spitzenwert lag damals bei unvorstellbaren 80.000 Flüchtlingen - und das in einem Land, das selbst nur 650.000 Einwohner zählt.

"Bei 50.000 ist unsere wirtschaftliche Schmerzgrenze erreicht", vermerkt Minister Jaredic, "dann müßten wir eigentlich unsere Grenzen schlieþen. Aber wir werden es auch diesmal nicht tun." Eine Großzügigkeit, die von der restlichen Welt unbedankt bleibt. Bis heute wartet Montenegro vergeblich auf massive internationale Hilfe. Die Enttäuschung gegenüber der großen Hoffnung "Europa" ist beträchtlich. Die kleine Republik wird im Gegenteil von den Wirtschaftssanktionen gegen die Milosevic-Diktatur schwer getroffen. Der einstmals blühende Tourismus mit 300.000 Sommergästen aus ganz Europa läuft nur noch auf Sparflamme und ist von der Nutzung der Küsten-Hotels als Lager bedroht. Die wirtschaftlichen Ressourcen sind mehr als begrenzt.

"Die internationale Flüchtlingshilfe ist bisher weitgehend ausgeblieben", so Jaredic und Scepanovic übereinstimmend. Angaben lokaler Flüchtlingshelfer zufolge hat sich die Unterstützung des Internationale Roten Kreuzes auf wenige Tonnen Zucker, Mehl und Speiseöl beschränkt. Was dringend gebraucht würde, sind Kleidung, Decken, Matratzen und vor allem die Einrichtung von Flüchtlingscamps. Derzeit versorgen vor allem private Familien die Zufluchtsuchenden, indem sie sie aufnehmen und das karge Mahl teilen.

Beim Lokalaugenschein in Rozaje und Plav - vier Autostunden über schwierigste Bergstraßen von den Verwaltungszentren entfernt - zeichnet sich das Bild wesentlich dramatischer als in den Politiker-Interviews. 60 % des Flüchtlingsstroms kommt über diese Kleinstädte - nur 5km Luftlinie von der Kosovo-Grenze entfernt. Der Chef der Flüchtlingshilfe in Rozaje, Ali Daci, gleichzeitig örtlicher Präsident der Demokratischen Liga Montenegros, die die Interessen der ethnischen Albaner im Parlament vertritt, ist einer jener Männer, die nicht nach Herkunft und Religion fragen, sondern einfach helfen. In seinem eigenen Haus beherbergt er allein 29 Flüchtlinge. "Ich muß mit guten Beispiel vorangehen, damit ich meine Mitbürger überzeuge."

Im Vergleich mit den österreichischen Bevölkerungszahlen entspräche dieses "gute Beispiel" in unserem Lande der Aufnahme von etwa 640.000 Flüchtlingen! Neuankömmlinge werden zunächst in der nahen Papierfabrik untergebracht und statistisch erfaßt. Man hält sich exakt an die Vorgaben internationaler Organisationen. Die Datensammlung ist fast lückenlos.

Eine dieser neuen Gruppen ist die Familie Idrizaj, drei Brüder und eine Schwester im Alter von 15-23 Jahren. Sie mußten unter serbischem Granatenhagel das zerbombte Haus in ihrem Heimatort Decani verlassen. In Nachtetappen erreichten sie das rettende Montenegro. Keine Nachricht vom Rest der Familie, keine Ahnung, wo sich die Eltern aufhalten. Der zwanzigjährige Ibish: "Viele schlaflose Nächte verbringen wir damit, nachzudenken, ob sie vielleicht noch leben. Wir sind arm und wissen nicht, wie es weitergehen soll. Alle, die über Geld verfügen, sind längst weg."

Schauplatz Plav. 300 Flüchtlinge - einige noch aus dem Bosnienkonflikt - sind in einem baufälligen "Hotel" untergebracht. Die sanitären Anlagen zertrümmert. Pro Etage gibt es eine funktionierende Toilette. Die Mehrzahl der Bewohner sind unter 18 Jahren. Dringendster Bedarf: Milch. Jeden Tag betteln die Helfer bei der Bevölkerung, die sehr arm ist und zudem ebenfalls die Häuser voller Flüchtlinge hat, um Milch. Petitionen an internationale Hilfsorganisationen, wenigstens Milchpulver zu schicken, wurden ignoriert. Manchmal wird die gespendete Milch sauer, weil Kühlmöglichkeiten fehlen.

Jeweils zwei Bewohner teilen sich eine Schaumstoffmatratze im Etappenschlaf. Keine Möglichkeit, zumindest für Kinder ordentlich zu kochen, da der Besitzer der Ruine, die seit sieben Jahren keinen zahlenden Gast gesehen hat, den Zutritt zur Hotelküche verweigert. Ein gefährlich aussehender Elektroherd dient als Kochstelle für 300 Menschen. Kommissar Stepanovic zu dieser Situation: "Trotz dieser unwürdigen Bedingungen müssen wir dem Besitzer dafür monatlich 250US$ bezahlen."

Selbst die Helfer sind erschüttert, wenn sie dieses Gebäude betreten, und tun dennoch alles, um die enorm hohe Seuchengefahr auf ein Minimum zu reduzieren. In einem Raum versammelt sich für uns die Familie Hasanmetaj. Vorher wird nochmals eilig der Fuþboden gekehrt, denn man ist bettelarm, aber nicht schmutzig. 23 Frauen und Kinder, die in Nachtmärschen -zuletzt 24 Stunden ohne Pause" den Kämpfen in der Region Decani entronnen sind. Die älteste ist Zyme Hasanmetaj, 63 Jahre, die jüngste Enkeltochter Diamanta - gerade 6 Monate alt. "Wir sind binnen Minuten geflohen, konnten keine Nahrung für die Kinder mitnehmen und nur nachts marschieren", beschreibt die Großmutter die Odyssee des Clans.

In Plav organisieren zwei politische Organisationen, die Demokratische Liga in Montenegro und die Demokratische Union, die Versorgung. Beide sind offizielle Vertretungen der albanischen Minderheit. Täglich werden sie von der bitterarmen Bevölkerung mit Nahrungsmitteln im Wert von rund 35.000 Schilling unterstützt. Niemand weiß, wie lange es noch gehen wird. Bei Kälteeinbrüchen im Gebirge werden vor dem Gebäude offene Feuer zum Wärmen gemacht. In wenigen Wochen kommt der Herbst mit bitterkalten Temperaturen, und es gibt keine warme Kleidung.

Der Fokus der internationalen Hilfe liegt aufgrund des Flüchtlingsstromes vom März in Albanien. Laut UNHCR wurden in den vergangenen Tagen angeblich zusätzliche Matratzen und Decken geliefert. Wir haben sie nicht gesehen. Das Rote Kreuz soll Hygieneartikel geschickt haben. Was völlig fehlt, ist jede medizinische Versorgung. Montenegro verfügt nicht über ein dichtes Netz an lokalen Ärzten. Die "Ärzte ohne Grenzen" sind wohl "vorbeigekommen", um bald schon weiter zu eilen. Was blieb, ist die elegante Business-Card eines holländischen Repräsentanten.

Die Möglichkeiten Montenegros sind am Ende. Schon tauchen die ersten Flüchtlinge in Sarajevo auf, wo sie die Transferlager für die schleppende Flüchtlingsrückführung blockieren. Sie gehören allen Religionen und Volks-gruppen an: 20% ethnische Montenegriner, 10% Moslems, 10% Serben und 60% ethnische Albaner. Mit ihnen gekommen sind auch 1.200 Roma, die von den Straßen ihrer Heimat gebombt wurden.

Montenegro wird in der Bewältigung dieser ungeheuren Aufgabe vor allem von Europa völlig im Stich gelassen. Die Menschen dort leben dramatisch vor, was das Wort Humanität bedeutet, und werden als Republik des Milosevic-Territoriums gleichsam noch dafür bestraft. Wenn das bereits völlig überlastetet System zusammenbricht, wird sich ein neuer, "unwillkommener" Strom an Hilfesuchenden über Europa ergießen. Denn ein Satz scheint in Montenegro unbekannt, nämlich jener, "Das Boot ist voll!" Statt dessen riskiert man lieber, im Namen der Menschlichkeit und der Toleranz im Boot unterzugehen.

Anm: Bilder zu beschriebenen Personen können aufgrund des Lokalaugenscheins auf Wunsch kurzfristig zur Verfügung gestellt werden. Daneben liegen noch zahlreiche weitere Fotos vor.

(Ende)
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