pte20070314026 Medizin/Wellness, Forschung/Entwicklung

Computer als Vormund unmündiger Patienten

Vorstoß amerikanischer Forscher stößt in Deutschland auf Kritik


Aachen (pte026/14.03.2007/13:55) Eine neue Software soll den mutmaßlichen Willen schwer kranker Patienten ermitteln, die sich über ihre medizinische Behandlung nicht mehr äußern können. Das von Wissenschaftlern des National Institute of Health http://www.nih.gov/ entwickelte Computerprogramm trifft Entscheidungen auf Basis verschiedener Fallstudien, bei denen Teilnehmer Angaben zu ihrem medizinischen Willen bei fiktiven Krankheitsszenarien gemacht haben. Dabei fassten die Wissenschaftler die Befragten nach sozio-ökonomischen Faktoren in Gruppen zusammen, was einen exakten Vergleich mit dem Lebensstil des Patienten und dessen vermuteten medizinischen Willen garantieren soll.

In einem ersten Schritt gibt der behandelnde Arzt das genaue Krankheitsbild des Patienten und dessen Indikatoren für seinen sozialen Status in das neu entwickelte Programm ein. Dieses vergleicht die Werte mit den angegebenen Präferenzen der zugehörigen sozialen Gruppe und berechnet auf dieser Grundlage die Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Patient eine bestimmte medizinische Behandlung gewünscht hätte. "Die Studie belegt die gravierenden Unterschiede in der Vorgehensweise der medizinischen Versorgung von Patienten in den USA und Deutschland", sagt Arnd May vom Universitätsklinikum der RWTH Aachen http://www.ukaachen.de/index.jsp im Gespräch mit pressetext. "Während in Deutschland zunächst Diagnose und Therapiemöglichkeiten bestimmt werden und anschließend der Patientenwille berücksichtig wird, läuft dieser Prozess in Amerika genau anders herum." In Deutschland sei der Spielraum viel geringer. "Hier gilt ohne Kenntnis der Patientenwünsche die einfache Regel: in dubio pro vitae," so May.

Hat der Erkrankte zuvor keine Patientenverfügung erlassen, in der er seine Wünsche für die medizinische Behandlung festlegt, befragen die behandelnden Ärzte oft die engsten Familienangehörigen. Die amerikanischen Wissenschaftler um David Wendler wiesen bei einer Analyse von 16 Studien jedoch nach, dass die Verwandten nur in etwa zwei Drittel aller Fälle die richtigen Entscheidungen treffen. Die Forscher verglichen deshalb ihre Software mit den Empfehlungen der engsten Angehörigen. Ihr Ergebnis: Die von ihnen entwicklte Software liefert ähnlich gute Ergebnisse. Würde sie auf einer größeren Datenmenge basieren, sei das Programm vermutlich sogar zuverlässiger, schreiben die Forscher in der Public Library of Science Medicine.

"Ich bezweifle, dass die Gruppenbildung von Patienten eine gute Entscheidungsgrundlage liefert", sagt Arnd May. "Unsere eigenen Untersuchungen haben sogar gezeigt, dass dieses Vorgehen untauglich ist, um die Wünsche der Patienten zuverlässig zu ermitteln." Auch die Ermittlung der Einschätzung sei wissenschaftlich zweifelhaft. "Zwischen fiktiven und tatsächlichen Entscheidungen können Unterschiede vorliegen", sagt May. Generell bestehe in einem Vorgehen, wie es von den amerikanischen Wissenschaftlern vorgeschlagen worden ist, die Gefahr, dass sich eine neue gesellschaftliche Drucksituation entwickelt. "Denn eine Entscheidung, die im Gegensatz zur Meinung einer gesellschaftlichen Gruppe steht, wird schnell begründungsbedürftig", sagt May. "Eine solche Entwicklung sollten wir in der Medizin vermeiden."

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